Ates Gürpinar: "Viele tun so, als seien sie unersetzlich"

München - AZ-Interview mit Ates Gürpinar: Der 38-Jährige aus München ist (noch) Co-Vorsitzender der bayerischen Linken. Er sitzt seit 2021 im Bundestag und ist zudem stellvertretender Parteichef der Linken im Bund.
AZ: Herr Gürpinar, die Linke im Freistaat wählt am Wochenende ihre neuen Landesvorsitzenden. Warum kandidieren Sie nicht mehr?
ATES GÜRPINAR: Ich war zehn Jahre auf der Landesebene aktiv, zunächst als Pressesprecher, dann als Geschäftsführer, schließlich als Landessprecher. Das reicht. Viele tun immer so, als seien sie unersetzlich. Das ist man als Mensch, vielleicht als Person, aber nicht in einer Funktion. In der Linken gibt es tolle Menschen, aktive Personen, die gute Ideen haben und in Bayern etwas verbessern wollen. Und ich werde nicht weg sein. Ich habe ja auch meinen Rosenheimer Wahlkreis und bin als Abgeordneter weiter in ganz Bayern unterwegs. Aber nun gibt es doch einige Aufgaben auf Bundesebene – als Abgeordneter und stellvertretender Parteivorsitzender – für die ich noch mehr Zeit brauche und die ich gut ausfüllen möchte.
Wie fällt Ihre Bilanz aus – und was hätten Sie gerne noch erreicht?
In Anbetracht der sozialen Verwerfungen und der mangelnden Menschennähe anderer Parteien müssten wir weit besser dastehen, da bin ich ehrlich. Zwar haben wir es in den letzten sechs Jahren geschafft, Themen zu setzen, so zum Beispiel im Kampf gegen das PAG, gegen den Pflegenotstand, jetzt auch gegen die Verteuerung. Wir haben junge Menschen als Mitglieder gewonnen, die die Welt verändern möchten und damit in Bayern beginnen. Und wir haben uns auf kommunaler Ebene verankern können. Aber ich finde, wir müssten weitaus stärker sein, vor allem auch, wenn wir uns die anderen Parteien anschauen, die mal links eingeordnet waren.
Gürpinar: "Die SPD in Bayern ist nur noch ein Schatten ihrer selbst"
Was werfen Sie den anderen Parteien vor?
Die SPD in Bayern ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Von ihr ist nichts wahrzunehmen. Die Grünen betteln jetzt schon so sehr ums Mitregieren, dass mir völlig unbekannt ist, ob sie noch Themen haben, um die es geht. Dabei ist so viel zu tun: Ich finde es unglaublich, wenn Menschen im Winter frieren müssen, wenn zum Überleben Pfandflaschen eingesammelt werden müssen und es die anderen Parteien nicht kümmert.
Adelheid Rupp, einst bei der SPD, wirft ihren Hut in den Ring. Wer wird am Sonntag zur Wahl antreten?
Gegenwärtig kandidieren für unsere Doppelspitze die Nürnberger Stadträtin Kathrin Flach Gomez und die ehemalige Landtagsabgeordnete Adelheid Rupp. Ich finde, das ist ein tolles Angebot. Mit Flach Gomez war ich nun zwei Jahre Landessprecher, sie bringt die kommunale Erfahrung aus Nürnberg mit ein. Dort sind wir als Partei sehr erfolgreich und hatten zum Beispiel im Bündnis ein erfolgreiches Bürgerbegehren zum 365-Euro-Ticket initiiert. Dass nun mit Adelheid Rupp eine ehemalige stellvertretende Vorsitzende der SPD antritt, die jahrelang von links den Bayerischen Landtag aufgemischt hat, das finde ich klasse. Sie ist von Beruf Anwältin – und von Herzen Anwältin für die Menschen in dem Lande. Es macht mir Freude, dass die beiden ein Jahr vor den Landtagswahlen ihren Hut in den Ring werfen.
Die anderen Parteien stellen bereits ihre Listen für den Landtagswahlkampf auf. 2018 sind Sie als Spitzenkandidat ins Rennen gegangen – wer wird es diesmal?
Da möchte ich nichts vorwegnehmen: Wir haben nun die Wahl des Landesvorstands am Wochenende. Das wird dann deren Aufgabe sein, einen Vorschlag zu erarbeiten, mit welchen Themen und den dazu passenden Personen wir in den Landtagswahlkampf starten. Ich bin selbst gespannt und freue mich, im nächsten Jahr für ein soziales Bayern den Wahlkampf unterstützen zu können.
"Es gibt prominente Persönlichkeiten, die unzufrieden sind"
Die Linke hat gerade wieder mit Grabenkämpfen auf sich aufmerksam gemacht. Steht die Partei vor der Spaltung?
Da wird viel aufgebauscht. Spaltung würde bedeuten, dass es um relevante Teile geht, die auf verschiedenen Seiten stehen. Das ist nicht der Fall. Es gibt einzelne, wenn auch prominente Persönlichkeiten, die unzufrieden sind. Das gab es schon immer. Aber es gibt eine Linie, hinter der ein großer Teil der Partei steht: Uns eint unser Einsatz gegen Armut, unsere Positionierung auf der Seite der Schwächeren in der Gesellschaft, unser Konzept für eine gerechtere Verteilung des Reichtums – hinter alldem steht die übergroße Mehrheit der Partei.
Sie haben es selbst schon angedeutet: Obwohl die Not durch steigende Energiepreise et cetera wächst, kann Ihre Partei bei Ihrer Kernklientel nicht punkten. Braucht es die Linke überhaupt noch?
Im Gegenteil: Genau deswegen braucht es uns. Die jahrelange Verarmung hat dafür gesorgt, dass ein bestimmter Teil der Gesellschaft mehr und mehr abgehängt wird. Sie sind enttäuscht und wenden sich ab. Sie beschäftigen sich überhaupt nicht mehr mit Politik, weil sie keine Hoffnungen mehr haben. Aber genau deswegen ziehe ich den umgekehrten Schluss. Uns braucht es – und zwar genau deswegen. Wir müssen die Menschen, die abwertend als 'Abgehängte' tituliert werden, wieder dafür gewinnen, sich für ihre Interessen einzusetzen. Wir haben am Wochenende in Italien gesehen, was passieren kann, wenn das hingenommen wird. Ich nehme das nicht hin.