Arzt über Demenzerkrankung: "Teilhabe wird total unterschätzt"
München - AZ-Interview mit Dr. Jürgen Herzog: Der Facharzt für Neurologie ist Ärztlicher Direktor an der Schön Klinik in Schwabing.
AZ: Herr Dr. Herzog, generell gibt es immer mehr Menschen in jüngerem Alter, also schon ab 65 Jahren, die eine diagnostizierte Demenz haben – wohl auch, weil die Diagnostik besser ist. Ab welchem Alter kann man denn dement werden?
JÜRGEN HERZOG: Grundsätzlich kann man schon ab dem frühen Erwachsenenalter, also ab 20, dement werden. Das sind aber wirklich absolut rare Ausnahmen und in aller Regel sehr, sehr seltene genetische Varianten von Demenzerkrankungen.

Die Symptome einer Demenzerkrankung
Bei Demenz denken die meisten zunächst an Vergesslichkeit. Welche Symptome gibt es noch?
Die Vergesslichkeit ist nach wie vor das führende Symptom, es gibt aber auch andere, die auf die Erkrankung hindeuten. Orientierungsstörungen beispielsweise, dass man sich in ungewohnten Umgebungen nicht zurechtfindet, auch Sprachstörungen, dass einem also Worte nicht mehr einfallen. Oder auch das Phänomen, dass man im Alltag nicht mehr zurechtkommt. Dass das Denken langsamer wird.
Wie wirkt sich eine Demenzerkrankung auf die Psyche aus?
Stimmungsschwankungen in Richtung einer depressiven Symptomatik oder auch eine erhöhte Reizbarkeit können auch Frühsymptome einer Demenzerkrankung bei älteren Menschen sein.
Wie merke ich selbst, dass ich wirklich krank bin – oder ein Angehöriger Demenz hat?
Das ist eine schwierige Frage, bei der Patienten und Angehörige nicht alleingelassen werden dürfen. Man kann auch nicht erwarten, dass Ärzte das sofort bei nur punktuellen Kontakten zu den Menschen erfassen. Das muss in der Zusammenarbeit von Patienten, Angehörigen und Ärzten ablaufen.
Demenz: Neues Phänomen kann immer ein Warnsignal sein
Was kann ein Warnzeichen sein?
Was immer ein Warnsignal ist, ist ein neues Phänomen. Wenn man sagt: Mein Mann war früher nicht so, er ist sehr verändert – und das über länger Zeit. Dazu gehört auch Verhalten, das zunimmt in Zeiträumen von einem halben Jahr oder einem Jahr.
Gibt es Voraussetzungen, die eine frühe Demenzerkrankung begünstigen?
Die frühen Demenzerkrankungen sind tatsächlich genetisch bedingt. Das sind Faktoren, die in den Genen liegen, die wir nicht beeinflussen können. Zum Teil kann man sich darauf auch untersuchen lassen – wenn es in der Familie schon Fälle früh beginnender Demenz gibt.
Abgesehen davon – was kann man tun?
Es gibt eine Reihe von Erkrankungen, die den Verlauf von Demenzen entscheidend beeinflussen. Und die kann man versuchen zu vermeiden: Dazu zählt alles, was die Durchblutung des Gehirns beeinflusst, also Bluthochdruck, Diabetes, hohe Cholesterinwerte, aber auch Übergewicht und Bewegungsarmut. Im höheren Lebensalter kommen dann noch andere erschwerende Faktoren dazu, die bei vielen das berühmte Tüpfelchen auf dem I darstellen – zum Beispiel ein Schlaganfall. Oder Einschränkungen der Sinneswahrnehmungen.
Was meinen Sie damit genau?
Im höheren Alter ist es ja häufig so, dass man schlechter hört, schlechter sieht. Das beeinflusst einen Demenzverlauf ganz entscheidend.
Hörgerät oder Brille können gegen mögliche Demenz helfen
Heißt das, wenn ich mir ein Hörgerät oder eine stärkere Brille besorge, tue ich etwas gegen eine mögliche Demenzerkrankung?
Ja, das ist ein Faktor, der total unterschätzt wird. Die frühzeitige Anpassung von Hör- oder Sehhilfen – auch die Behandlung von Grauem Star – hilft. Es gibt Studien dazu, wie relevant diese Hebel in Bezug auf Demenz sind. Es geht ja nicht nur ums reine Sehen und Hören. Damit hängt ja das Sozialverhalten und Teilhabe zusammen. Wenn ich schlechter höre, habe ich plötzlich Hemmungen, mich in Gesellschaft zu begeben, vermeide Kontakte. Das begünstigt die Entstehung von Demenz auch.
Welche Rolle spielt die psychische Verfassung bei der Entstehung von Demenz?
Die Psyche spielt eine ganz große Rolle. Gerade der Faktor Depression steht in sehr engem Verhältnis mit dem Auftreten von Demenz. Wobei es in einzelnen Fällen schwierig zu unterscheiden ist, was zuerst da war. Wir wissen, dass die Altersdepression eine sehr große therapeutische Herausforderung ist. Die zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten wie Antidepressiva oder Psychotherapie werden da sicher nicht im vollen Rahmen ausgeschöpft.
Demenzerkrankung: So verhält man sich als Angehöriger
Perspektivenwechsel: Wie verhalte ich mich als Angehöriger eines Demenzpatienten?
Ganz allgemein sollte man zunächst versuchen, die Einschränkungen und Symptome des Betroffenen zu akzeptieren und für ihn oder sie Verständnis zu zeigen. Häufig wird das Verhalten fehlinterpretiert als ein absichtliches Nachlassen oder als Erpressung, sich mehr zu kümmern. Es braucht also Verständnis – und man sollte sich frühzeitig Hilfe holen.
Von Ärzten?
Das müssen nicht immer Ärzte sein, sondern auch weitere Familienangehörige, Sozialdienste, Beratungen, Selbsthilfegruppen. Es gibt mittlerweile schon eine beachtliche Zahl an Hilfsangeboten, die auch genutzt werden, aber häufig viel zu spät.
Besteht eine Heilungschance?
Leider nein. Es gibt noch nicht mal auf dem Markt erhältliche Medikamente, die den Verlauf relevant verzögern oder die stabilen Phasen verlängern können. Was man machen kann, ist, die Leistungsfähigkeit der noch vorhandenen Nervenzellen über einen gewissen Zeitraum zu erhalten, mit sogenannten Antidementiva. Auch wenn das keine weltbewegenden Effekte sind, können sie im Einzelfall sehr hilfreich sein, eine angespannte Situation zu entschärfen. Außerdem kann man eine Vielzahl von Demenzsymptomen symptomatisch behandeln oder auch durch Physio-, Ergo- oder Sprachtherapie viel erreichen.
Programm: Die Bayerische Demenzwoche
Während der dritten Bayerischen Demenzwoche von 16. bis 25. September gibt es eine Vielzahl von Vorträgen, Workshops und Info-Veranstaltungen für Betroffene und Angehörige – auch in München. Zu finden hier.
- Themen: