Anpacken nach der großen Flut – So geht es den Menschen vor Ort

Reichertshofen/Kelheim - Die große Flut ist vorbei, die Helfer ziehen ab. Auf der B 300 fahren sie an diesem Vormittag weg von Reichertshofen in Kolonne Richtung Autobahn, 35 oder 40 große Wagen vom Roten Kreuz, der Feuerwehr und dem Technischen Hilfswerk. Sie haben große Boote geladen und Wasserpumpen.
Doch die Menschen von Reichertshofen bleiben. Sie sind nun allein mit dem, was die Flut hinterlassen hat. Kaum einen Ort in Bayern hat das Hochwasser so schlimm erwischt wie diesen 8500-Einwohner-Markt 15 Kilometer südlich von Ingolstadt. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) war da, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Kanzler Olaf Scholz (SPD).
Von den Besuchen hat Gaby Meier nichts mitbekommen, sie räumt das Lager ihres Ladens aus. "Es war ein Albtraum", sagt die 63-Jährige. "Meiers Vielfalt" im Ortszentrum ist bekannt, das Familiengeschäft mit sechs Mitarbeitern vertreibt Garten- und Tierbedarf, Deko-Accessoires fürs Wohnzimmer und alles für den Grill.
"Jetzt sind 70.000 Euro im Wind", hat Meier schon hochgerechnet. Das viele Tierfutter ist kaputt, die Briketts sind durchnässt. "Einen ganzen Bus voll damit haben wir schon zum Entsorgen gebracht."
Die Betroffene hat schon 50 Stunden nicht mehr geschlafen
50 Stunden hat sie nicht mehr geschlafen. Es gab keine Elektrizität. "Ich liege nachts im Bett und höre ständig das Knattern von den Notstromaggregaten", sagt Meier. "Die Beine machen nicht mehr mit, ich hab höllische Schmerzen", klagt sie und deutet auf die Füße in Plastikschuhen. "Ich nehm nur noch Schmerztabletten."
Was ist mit der Versicherung? "Uns versichert keiner", meint sie. "Wir sind zu nah am Wasser." Ein Problem, das man in diesen Tagen häufig hört. Und dann waren auch noch die zwei Notstromaggregate weg, die sie nach Benutzung vors Haus gelegt hatten – gestohlen.
Die Meiers haben aber ein Ziel, und das teilen sie den Kunden auf einem Plakat an der abgesperrten Ladentür mit: "Ab Montag, 10. Juni, wieder geöffnet."
Es sind ein paar Straßen im Reichertshofener Zentrum, die so massiv überschwemmt wurden. Am Sonntag war es um die Mittagszeit, als der Regen runterkam, wie man es sich nicht hätte vorstellen können. Jetzt liegt alles vor den Häusern: Stühle, Schränke, Teppiche. Am Nachmittag wird der Sperrmüll abgeholt.
Insgesamt sechs Tote hat das Hochwasser in Bayern und Baden-Württemberg bislang gefordert. Wie am Donnerstag bekannt wurde, werden in Bayern noch drei Menschen vermisst, darunter ein 22-jähriger Feuerwehrmann aus Schwaben.
Der Wetterdienst sagt erneut Regen und Gewitter voraus
Welchen Schaden die Fluten angerichtet haben, ist kaum zu beziffern. Die R+V-Versicherung geht von 100 Millionen Euro aus – allerdings nur bei ihren Versicherten.
Die Aussichten fürs Wochenende dürften zudem viele beunruhigen: In Teilen von Süddeutschland drohen nach Angaben des Deutschen Wetterdienstes (DWD) erneut schwere Regenfälle. Für Südbayern gingen die meteorologischen Modelle derzeit für die Zeit von Samstagabend bis Montagmittag von Niederschlagsmengen von bis zu 60 Litern pro Quadratmeter aus, sagte DWD-Meteorologe Dirk Mewes am Donnerstag. Unklar sei derzeit noch, wo genau die Niederschläge fallen werden. Immerhin: Es würden nicht die Regenmengen der vergangenen Woche erreicht. Dennoch könne es wegen der bereits angeschwollenen Gewässer und der durchfeuchteten Böden erneut zu erheblichen Gefahren kommen, auch für Leib und Leben.
Wie schön es doch wäre, am Fluss zu leben. Brigitte Pilz hat das fast ihr ganzes Leben lang getan, in Reichertshofen direkt an der Paar. Nun stapeln sich auch in ihrem Garten und am Haus die materiellen Dinge, die bis vor wenige Tagen das Leben der 83-Jährigen bedeutet hatten: Kücheneinrichtung, Sitzbänke, Decken, Bett, Matratze, Kleidung und Geschirr.
Es war ein kleines Haus aus den 1950ern, einfach gebaut, ohne Keller und mit einem Dachspeicher. "Alles ist kaputt, das muss man abreißen", ist sich Pilz' Tochter Sandra Geisler sicher. Sie und ihre beiden Kinder helfen der Seniorin beim großen Rausräumen. "Das Wasser stand ja so hoch", sagt Geisler und geht mit der Hand an die Hüfte. Die Mutter ist jetzt bei ihr in Ingolstadt untergekommen.
Geisler führt durch ihr Elternhaus mit nassen Wänden und Böden, es riecht modrig. "Wir dachten, meine Mutter würde hier bis an ihr Lebensende bleiben", sagt die Tochter. Dabei wirken die beiden ziemlich zielstrebig und entschlossen. "Es hilft ja nichts", sagt Brigitte Pilz und trägt viele Teller nach draußen. "Aber abends und nachts weinen wir."
Die Paar, die über alle Ufer getreten ist, mündet 25 Kilometer später in die Donau. Entlang des großen Stromes zittern die Menschen überall seit Tagen. Regensburg ist knapp an der Überschwemmung. In Passau ist es wie immer am schlimmsten, weil dort auch Inn und Ilz in die Donau münden. Die Altstadt steht unter Wasser, aber das ist nicht das erste Mal. Die Bürger wissen, was zu tun ist.
Ministerpräsident Markus Söder sagte beim Besuch am Mittwoch anerkennend zum SPD-Oberbürgermeister Jürgen Dupper: "Die Passauer sind Hochwasser-Profis."
Kelheimer gesteht: "Ich habe Angst"
Zurück nach Reichertshofen: Von dort ist es recht schwierig, mit dem Auto entlang der Donau zu anderen Orten zu gelangen, weil immer wieder Straßen geflutet und gesperrt sind. 70 Kilometer nordöstlich liegt Kelheim. Meist ist das ein ziemlicher Touristen- und Radler-Hotspot mit dem überwältigenden Donaudurchbruch beim Kloster Weltenburg und der hoch oben thronenden Befreiungshalle.
Jetzt aber sind kaum Urlauber da, die Schiffsanlegestelle ist verwaist. In der Altstadt reden alle über die entscheidenden Zentimeter des Pegelstandes, wie etwa der Rentner Otto Röhrl mit einem Bekannten. "Ab 750 Zentimeter ist der Damm gesperrt", sagt er, gerade steht 754 auf der elektrischen Anzeigetafel. Ein paar Zentimeter mehr, dann könnte es mit der Altstadt passé sein, diese liegt unterhalb des Niveaus der Donau.
"Die Dämme sind vollgesogen wie ein Schwamm, aufgequollen und brüchig", erklärt Röhrl. Auch deshalb ist es verboten, dort zu gehen. Röhrl selbst wohnt in der Altstadt. "Mein Auto habe ich aber aus der Tiefgarage weggebracht."
Seit Tagen schläft er kaum noch, denn er fürchtet, die Sirene zu überhören, die zur Evakuierung aufrufen würde. Otto Röhrl gesteht: "Ich habe Angst."