Anonyme Alkoholiker: Wenn der Rausch das Leben bestimmt. Ein Besuch

Wie fühlt es sich an, wenn der Rausch das Leben bestimmt? Und wie gewinnt man die Kontrolle zurück? Ein Besuch bei den Anonymen Alkoholikern.
Christoph Urban |
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Einmal hat ihm ein Betrunkener drei Rosen in die Wasser-Mass gestellt, erzählt Markus. Sowas trinke man nicht am Volksfest. Markus hat darüber gelacht.
Christoph Urban Einmal hat ihm ein Betrunkener drei Rosen in die Wasser-Mass gestellt, erzählt Markus. Sowas trinke man nicht am Volksfest. Markus hat darüber gelacht.

Straubing - Immer am Montagabend treffen sich Menschen im Familienhaus der Christuskirche, um sich daran zu erinnern, dass sie krank sind. Vergessen hieße trinken, wieder trinken, wieder ihr Leben aus der Hand geben. Sie ringen darum, ihr eigener Herr zu sein.

Sie sagen, ihre Anonymität ist ihnen lebenswichtig. Wir haben bei einer Sitzung in Straubing zugehört, alle Namen geändert und ihre Geschichten aufgeschrieben.

Seinen Namen sagt er nicht. Es ist sein erstes Mal bei den Anonymen Alkoholikern, er will nur zuhören. Sie werden ihm von ihren ersten Treffen erzählen, von Todesangst, von Obdachlosigkeit und davon, wie viele Weinflaschen in einen Aktenkoffer passen ohne zu scheppern.

Die Lüftung hinter einem Deckel an der Wand wird röcheln, aussetzen, wieder einsetzen. Er wird dasitzen, zuhören, schweigen. "Wer durch diese Tür geht, gehört dazu", hat Paul gesagt. Paul gehört dazu, 13 andere gehören an diesem Montag dazu.

Auch er, der Schweigsame, gehört für einen Abend dazu. Er ist durch die Tür getreten, an der ein DIN-A 4-Blatt mit den zwei Lettern der Gruppe hängt, und wird zwei Stunden lang zuhören. An der Wand hängen Plakate mit den Therapieschritten der Gruppe. Er sieht sie zum ersten Mal, die anderen kennen sie auswendig.

Sie haben zugegeben: "Wir sind dem Alkohol gegenüber machtlos", erster Schritt. Sie wenden sich an die Gruppe, zweiter Schritt, an Gott, "wie wir ihn verstehen", dritter Schritt, sie blicken in ihr Inneres, "furchtlos", vierter Schritt. Sie geben ihre Fehler zu, fünf, geben sich Gott hin, sechs, bitten ihn um Hilfe, sieben.

"Manchmal war ich lustig. Aber meist ein ekelhafter Hund"

Sie sitzen im Viereck um zusammengerückte Tische, unter kaltem Röhrenlicht. Viele Eheringe, zittrig aufgetragener Lidstrich, eingefallene Wangen, Jacken aus Kunstleder, ein Gehstock, ein Atemgerät, künstliche Bräune, kranke Blässe.

"480 Kilometer ist ein guter Abstand zu meiner Familie", wird einer sagen. Der Neue setzt sich ins Viereck, die Hände im Schoß, die schwarzgrauen Haare struppig, die Brille kantig. "Manchmal war ich lustig", wird einer sagen. "Aber meist ein ekelhafter Hund."

Auf dem Tisch brennt eine rote Kerze zwischen Kaffeekannen, Tassen, Milchpäckchen und Aufstellschildern. Rede von dir, steht auf einem. Wen du hier siehst - bitte, lass es hier, auf einem anderen.

Die Lüftung hinter dem Deckel an der Wand röchelt, setzt aus, setzt wieder ein. Sie stellen sich reihum vor, beginnen immer gleich: Hallo, Paul, Alkoholiker. Hallo, Gabi, Alkoholikerin. Sie geben von sich preis, so viel sie wollen, jeder hört zu. Anonymität ist für sie lebenswichtig - wer als trockener Alkoholiker auffliegt, verliert.

Mit zehn Halben Bier zur dritten Führerscheinprüfung

Hallo, Steffi, Alkoholikerin. Sie ist vielleicht Anfang 20, die Innenseite ihres linken Unterarms verrät, dass sie Rechtshänderin ist. Sie will heute nichts sagen.

Claudia, Angehörige, ihr Mann säuft. Sie wohnt auf dem Land, hat sich Geld geliehen, ein Auto gekauft. Anders käme sie nicht in die Stadt zu den Treffen. "Er war megasauer deswegen." Er sagt, man trinke halt. Schon sein Vater, jetzt seine Freunde, während der Arbeit, danach ins Wirtshaus. Er kennt's nicht anders. Sie hat es auszuhalten.

Sie wiederholt täglich den Spruch der Gruppe, dreimal, viermal, zehnmal: Gott, gib mir Gelassenheit, sagt sie dann, gib mir Mut, zu ändern, was ich ändern kann. "Das hilft."

Gabi, Alkoholikerin, blond, vielleicht Ende 40, freut, dass der Neue sich getraut hat. "Du musst gar nichts sagen." Sie habe erst aus eigener Kraft mit dem Trinken aufgehört. Dann sah sie beim Einkaufen den Falschen. "Ich schau' ihm in die Augen - bing!" Einst hat er ihr Fürchterliches angetan, sagt sie. Bing, alles wieder da. Eine Flasche Wein, zu Hause im Dunklen zu Boden gesunken, der Schock nach dem Rückfall, wegen des Rückfalls Todesangst. Alleine ging's nicht. Die Gruppe fing sie auf. "Es ist, als käme ich heim."

Herbert, Alkoholiker, Rollstuhl, Atemgerät, zehn Halbe vor der Führerscheinprüfung. Sein Fahrlehrer 17 Halbe, sagt er. Der Prüfer habe ihn aus Angst bestehen lassen. Die dritte Prüfung, bei allen drei war er betrunken, sein Fahrlehrer auch. Andere Zeiten damals. Herbert ist über 60, lange trocken. Nur einer sei vier Jahre länger trocken gewesen als er. Inzwischen hat Herbert ihn eingeholt. "Weil der seit fünf Jahren tot ist."

Thomas, Alkoholiker, nickt dem Neuen zu, lächelt ihn an. "Ich hätte bei meinem ersten Treffen nicht still sein können, weil ich geplatzt wäre", sagt er. Thomas mag um die 50 sein, vielleicht älter. Alkohol macht alt. "Hier habe ich mich das erste Mal geborgen gefühlt", sagt er und blickt dankbar in die Runde. Sein Vater sei der beste Mensch auf der Welt gewesen. "Aber wenn er einen Tropfen Alkohol in sich hatte, war er ein Tier." Sein Nebenmann, 480 Kilometer weg von seiner Familie, nickt, die Augen gesenkt. Der Neue schweigt.

Erst seit er nüchtern ist, hat Thomas wieder Macht über sich

"Ich kann mich gut selbst anlügen", sagt Thomas, hebt die Brauen, lächelt. Als er noch trank, sei er zur Bank gegangen, Geld abheben. Er kenne sich, erzählt er, er kennt den anderen in sich. Darum habe er das Geld oben auf den Schrank gelegt, ganz hinten. "Damit's sicher ist vor mir", sagt er, hebt den Zeigefinger, streckt den Arm aus wie damals.

Wenn es um Alkohol geht, war Thomas immer zu zweit mit sich. Irgendwann ist der andere gekommen, sagt er. "Er will sich nur etwas nehmen für eine Apfelschorle. Aber er nimmt nicht nur fünf Markl, sondern einen ganzen Batzen Geld." Thomas zieht mit seinem Zeigefinger ein Augenlid nach unten. Er weiß es, der andere weiß es. Aber der andere hat das Sagen. "Dann ist er im Taxi gesessen, im Samt-Jackettl", sagt Thomas, zupft an seinem Hemd, äfft den anderen nach, "er ist ja ein Feiner". Drei Tage später sei er heimgekommen, sagt Thomas, kein Cent übrig. Obdachlosigkeit, mehrmals. "Obagsuffa."

Seit er nüchtern ist, habe er wieder Macht über sich. Über ihn bestimme nicht mehr der Alkohol. Der andere ist verschwunden, schläft, Thomas ist allein.

Sechs Flaschen passen in den Aktenkoffer - ohne zu klirren

Markus, Alkoholiker, sagt, seine Geschichte sei nicht so spektakulär. Genau weiß er nicht mehr, warum er angefangen hat zu trinken. Der Stress vielleicht, viel unterwegs. Vielleicht das Alleinsein.

Irgendwann trug er seinen Aktenkoffer nicht mehr wegen der Akten, sondern wegen der Flaschen. Er gehe die Dinge logisch an. Daher hat er ausprobiert, wie viele Flaschen Wein in seinen Aktenkoffer passen, ohne zu klirren. Sechs.

Er hat seine Sucht gut organisiert, damals. Immer die Augen offen für Glascontainer, Grünglas. Immer auf Nachschub bedacht. Lange zog er die Sucht mit. Nur wenn er nach einer durchsoffenen Nacht vergessen hatte, wo seine letzte angetrunkene Weinflasche versteckt war, das ärgerte ihn.

Irgendwann zog die Sucht ihn. Er merkte, dass er die Augen nur noch offen hatte für Glascontainer, für Tankstellen, für Nachschub. Er sei ein logischer Mensch. "Daher war mir klar, der einzige Weg, damit ich nichts mehr trinke: Ich erschieß' mich. Aber nüchtern will ich dabei sein."

So hat er in einer Nacht seine Knarre gepackt, ist in einen Steinbruch gefahren, hat sich oben an den Felsrand gestellt: "Wenn ich nicht g'scheid treff', fall' ich runter und bin auch tot." Das ist lange her. Er ist immer noch da. Er war zu feige. "Oder zu nüchtern", sagt er und lacht herzlich.

Heute trinkt er auf dem Volksfest Wasser. Einmal hat ihm ein Betrunkener drei Rosen in die Wasser-Mass gestellt, sowas trinke man nicht am Volksfest. Markus hat darüber gelacht, heute lachen die anderen mit ihm, fast alle, manche befreit, manche gequält.

Der Neue hört an diesem Montagabend immer wieder das gleiche Muster. Am Anfang keine Liebe, enttäuschte Hoffnung, Vater säuft, schlägt zu. Nähe fehlt. Kindsein fehlt. Dann: Erwachsensein in Anführungsstrichen. Alkohol, der Helfer. Weltflucht. Dann: Alkohol, das Problem. Welt ruckelt, bröselt, stürzt ein.

"Ob du wieder kommst, musst du selbst wissen. Es hilft"

Er hört von jedem ein Datum, 1. Februar 2004, 23. Juni 1998, jeder hier hat so ein Datum, auf das er stolz ist: das erste Treffen, seither trocken. Heile Welt? "Unsere Krankheit ist die Krankheit des Vergessens", sagt Paul. Wer vergisst, dass er Alkoholiker ist, trinkt, trinkt wieder, gibt sein Leben aus der Hand, sagen sie. Sie halten die Erinnerung wach an ihr Datum, daran, wie es vorher war, mit Alkohol. Sie sagen, seit ihrem Datum bestimmt nicht mehr der Alkohol über sie. Sie lassen sich den Alkohol nie vergessen.

Beim Treffen am Montagabend steht Kuchen auf dem Tisch, unter dem Röhrenlicht. Die Lüftung röchelt, Karin nimmt sich ein Stück. Sie nimmt es wie eine müffelnde Socke, hält es sich unter die Nase, die Augen zusammengekniffen. Sie weiß nicht, ob ein Mitglied der Gruppe den Kuchen mitgebracht hat oder ob er übrig ist von einer anderen Veranstaltung im Familienhaus. "Wenn da Alkohol drin ist, das wär' ganz schlimm", sagt sie. Sie schnüffelt, riecht keinen, isst. Genau kann sie nicht sagen, was an einer Spur Alkohol im Kuchen schlimm wäre. Sie überlegt. Wohl der Geschmack, meint sie. Sie weiß es nicht. Vielleicht die Wirkung. Vielleicht beides. Trocken bleiben ist das eine. Sein Leben nicht mehr vom Alkohol bestimmen zu lassen, etwas anderes.

Das Treffen endet wie jedes Treffen. Sie stehen auf, Paul, Markus, Karin, alle, auch der Neue, und fassen sich an den Händen. Gott, gib mir die Gelassenheit, hinzunehmen, was ich nicht ändern kann, sagen sie gemeinsam. Gib mir Mut, zu ändern, was ich ändern kann. Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. "Ob du wieder kommst, musst du wissen", sagt Herbert zum Neuen. "Es hilft."

Sie gehen. Claudia, Angehörige, fährt zurück zu ihrem Mann, dem Säufer. Thomas, Alkoholiker, nach Hause, alleine, der andere ist weg, schläft. Steffi, Rechtshänderin, tippt ins Smartphone, schreibt ihrem Freund.

Der Neue, schweigsam, nickt zu, verabschiedet sich, geht. Vielleicht wird er wiederkommen. Vielleicht wird der heutige Tag sein Datum, das er sich nicht vergessen lassen wird.

Während alle gehen, ausatmen, Stühle rücken, die Lüftung hat wieder ausgesetzt, blickt Markus ernst. Denkt er an die Nacht im Steinbruch mit der Knarre am Kopf? Die Nacht, in der er zu nüchtern war, um abzudrücken? Nein. Er denkt daran, wie er morgens aufwacht, seit er nicht mehr trinkt. Dass er intensiver fühlt, die Sonne, den Regen, den Wind. Er sitzt beim Volksfest zwischen Betrunkenen, ohne Angst vor sich selbst, lacht über Rosen im Masskrug. Er fühlt, dass der Alkohol nicht mehr sein Leben bestimmt. Er sagt, er hört die Vögel wieder zwitschern.


Autor Christoph Urban ist Mitarbeiter der Mediengruppe Straubinger Tagblatt / Landshuter Zeitung und wurde für diesen Beitrag soeben mit dem Reportagepreis der Akademie der Bayerischen Presse ausgezeichnet.

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