Angst vor Lieblosigkeit und vorm Alleinsein

Iwona Jera inszeniert in der Erlanger Garage Heinrich Leopold Wagners einst heftig diskutiertes Sturm- und Drang-Drama „Die Kindermörderin“. Ein Probenbesuch.
von  Abendzeitung
Das Ensemble der „Kindermörderin" - Marco Wohlwend, Juliane Pempelfort, Harald Schröpfer, Maria Ammann und Maximilian Löwenstein - auf der Probe in der Erlanger Garage.
Das Ensemble der „Kindermörderin" - Marco Wohlwend, Juliane Pempelfort, Harald Schröpfer, Maria Ammann und Maximilian Löwenstein - auf der Probe in der Erlanger Garage. © Günther Kühnel

NÜRNBERG - Iwona Jera inszeniert in der Erlanger Garage Heinrich Leopold Wagners einst heftig diskutiertes Sturm- und Drang-Drama „Die Kindermörderin“. Ein Probenbesuch.

„Himbeerzimmer, Himbeerzimmer, Himbeerzimmer, Himbeerzimmer“ gellt es chorisch schrill von der Bühne, dann geht pausenlos der alte Rhythmus weiter: Einer der sechs Schauspieler unkt den Bass, ein anderer setzt einen Auftakt dagegen, eine Dritte schichtet ein Melodiefragment drauf. So entsteht die eindrucksvolle Klangkulisse, Illustration und Verfremdung zugleich.

In einer Disko spielt der Wirtshausakt von Heinrich Leopold Wagners einst heftig diskutiertem Sturm- und Drang-Drama „Die Kindermörderin“ bei Regisseurin Iwona Jera, deren Fassung am 28. Februar im Erlanger Theater in der Garage Premiere feiert (20 Uhr). Es geht um Evchen, die vom adligen Gröningseck geschwängert, von ihren bürgerlichen Eltern moralisch bedrängt und vom Bösewicht Hasenpoth um die Chance auf eine Ehe mit dem Kindsvater gebracht wird.

Jera, die in Erlangen zuletzt „Iwona, Prinzessin von Burgund“ inszenierte, wirkt während der Probe trotz Erkältung entspannt. Die Arbeit an der Inszenierung ist weit gediehen, es geht um Details, an denen sie freundlich feilt: Wenn sie ihre Schauspieler in eine Szene schickt, wünscht sie „Viel Spaß!“, hinterher gibt’s Lob („Das war supi!“), dann erst die Bitte um Änderungsvorschläge.

Dabei ist sie durchaus kritisch, will, dass der Rhythmus, die Choreografie der Szene sitzen. Sie mag Wagners 1776 vollendeten Text in seinem Bemühen, alle Probleme der Zeit zu thematisieren, weiß aber: „Das Stück ist schon ein bisschen misslungen.“ Bereits zu Wagners Lebzeiten gab es Bearbeitungen — auch eine eigene mit Happy End. Mit Dramaturg Robert Mattheis hat Jera den Text skelettiert und den Berliner Schriftsteller Thomas Melle beauftragt, einen „zweiten Atem“ zu schreiben, eine Art zehnminütigen Epilog. Warum Melle? „Ich mag sein Schreiben, er ist so barock im Wort, so fleischlich, eindeutig, klug.“

Melles Ende soll einen heutigen Blick werfen auf Evchens Schicksal. So wie das Produktionsteam, das in der Vorbereitungsphase eine Schwangerschaftsberatung besuchte. Hier erfuhr Jera den häufigsten Abtreibungsgrund: die Angst der Frauen vor Lieblosigkeit und vorm Alleinsein. „Die sagen: Wenn ich ein Kind bekomme, wird er mich nicht mehr lieben. Das passiert Evchen.“

Jera findet noch weitere Parallelen zum Heute: „Die Kälte und Lieblosigkeit in Familien, die in so starren Verhaltensformen leben, dass sie vergessen zu lieben – das haben wir heute noch. Es hat sich nichts verändert.“

Auch an Babyleichen in Blumentöpfen hat sie gedacht, will so plakativ aber nicht auf der Bühne arbeiten. „Die Menschen sind durch solche Ereignisse und ihre mediale Verbreitung schon abgestumpft genug. Es wird auch immer schnell ein Urteil gefällt. Aber kein Psychiater hat bislang nachweisen können, was mit diesen Frauen geschieht. Ich verurteile diese Frauen auf keinen Fall.“ Dass auch Wagner den Stab über seine „Kindermörderin“ nicht bricht, wird Jera ab Samstag in Erlangen zeigen. Georg Kasch

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