Amoklauf in Ansbach: Der lange Weg in die Normalität
Vor einem Jahr stürmte Georg R. ins Gymnasium Carolinum und verletzte 15 Menschen zum Teil schwer mit Messern, Molotow-Cocktails und einer Axt
ANSBACH Der Turm und die Fassade haben einen neuen magentafarbenen Anstrich, auch Fenster und Heizung sind neu. „Auch vom Aussehen her wird das Schuljahr ein Neuanfang“, sagt im Rektorenzimmer Franz Stark, Schulleiter des Carolinum. Der Alptraum soll endlich der Vergangenheit angehören. Vor einem Jahr, am dritten Tag nach den Sommerferien, stürmt der 18-jährige Schüler Georg R. bewaffnet mit Brandsätzen, Beil, Hammer und vier Messern in das musisch-humanistische Gymnasium.
Er reißt die Türen zu zwei Klassenzimmern auf und wirft Molotow-Cocktails hinein. Auf die flüchtenden Schüler wartet er im Gang, wahllos schlägt er mit dem Beil zu. Elf Minuten später stoppen ihn Polizisten auf der Schultoilette mit Schüssen aus einer Maschinenpistole. Bis dahin hat er zwei Mädchen mit Hieben und Feuerbällen schwer verletzt, eine ringt um ihr Leben. Außerdem erleiden zwei Lehrer und elf Schüler Verletzungen.
Lehrer und Rektor lösen Feueralarm aus und bringen die Schüler raus. Dass kein Toter zu beklagen ist, sei trotzdem Glück gewesen. „Wir hatten Schutzengel“, sagt Stark.
Petra Lehmann, Koordinatorin beim Kriseninterventions- und Bewältigungsteam der bayerischen Schulpsychologen, trifft damals gegen Mittag in Ansbach ein. Mit Lehmanns Ankunft beginnt für Schüler und Lehrer ein langer Weg – der Weg zurück in die Normalität.
„Bitte leise anklopfen und Tür nicht aufreißen“
Zunächst wurden die traumatisierten Schüler behandelt. „Viele konnten nicht schlafen, hatten Alpträume oder waren wie betäubt“, sagt Lehmann. Sie zeigten Anzeichen der so genannte posttraumatische Belastungsstörung.
„Lehrer und Schüler waren bis über die Leistungsgrenze belastet“, sagt der Schulleiter. Die Ängste spiegelten sich in Kleinigkeiten.
Klassen baten, beim Unterricht die Türen abzuschließen. Der Klingelton weckte Horror-Assoziationen. An der Tür eines Klassenraums hängt ein Schild: „Bitte leise anklopfen und Tür nicht aufreißen.“ „Das Schlimmste ist, dass wir unser Sicherheitsgefühl verloren haben“, sagt Stark. Schritt für Schritt muss die Normalität erarbeitet werden.
Psychologen aus Lehmanns Team blieben ein halbes Jahr in der Schule, sie führten unzählige Gespräche. Große Sorgen machte dem Schulleiter indes das Abitur, denn kurz zuvor fand der Prozess statt, bei dem Georg R. zu neun Jahren Haft verurteilt wurde. „Es war einer der besten Notendurchschnitte der letzten Jahre“, so Stark erleichtert.
Noch einen Grund zur Freude hat er. „Für mich gab es nichts Schöneres, als diesen Moment, als mich die beiden besuchten.“ Stark spricht über die zwei schwer verletzten Mädchen. Nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden waren, kamen sie wieder in die Schule und bestanden das Klassenziel.
An diesem Freitag jährt sich die Attacke. In der Schule werden Psychologen bereit stehen. Ein Gedenken an die Tat ist nicht geplant. „Wir haben einen ganz normalen Schultag“, sagt Stark. So müsse es sein, sagt Lehmann, sonst hätte der Täter sein Ziel erreicht.
Lars-Marten Nagel
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