Albert Speers Lebenslügen
AZ-Serie: Hitlers Rüstungsminister will von den Nazi-Gräueln nichts gewusst haben – und belog das Gericht.
NÜRNBERG Er hat beim Kriegsverbrecherprozess die Richter und Staatsanwälte belogen – und er hat später die gesamte Öffentlichkeit belogen. Die einzige offene Frage, die nur er selbst beantworten hätte können: Hat Albert Speer, Hitlers Rüstungsminister und von Gigantomanie geprägter NS-Architekt, eigentlich selbst an seine eigenen verniedlichenden Lügengeschichten über seine Rolle an der Seite des „Führers“ geglaubt?
Zeugen müssen vor Gericht die Wahrheit sagen. Doch Angeklagte dürfen lügen, dass sich die Balken biegen. Albert Speer hat das Lügenpotenzial tief ausgeschöpft – und seinen Kopf mit einer subtilen Verteidigungsstrategie aus der Schlinge ziehen können. Im wahrsten Sinne des Wortes. Er musste 20 Jahre in Haft – im Spandauer Gefängnis für Kriegsverbrecher. Doch nach seiner Entlassung wurde ihm dieser karge Abschnitt seines Lebens allerdings kräftig versüßt. Die von ihm veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen wurden ein Bestseller und schwemmten ihm Millionen auf die Konten.
Albert Speer war eine Ausnahme unter den angeklagten Kriegsverbrechern. Während Konsorten wie Göring, Streicher oder Heß die Zuständigkeit des Internationalen Militärgerichts ebenso bestritten, wie die Rechtmäßigkeit von Vorwürfen wie etwa Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schlug Speer moderatere Töne an – solange es nicht um ihn selbst ging. Irgendeine persönliche Schuld an den Gräueltaten des NS-Regimes wies er weit von sich. Immerhin aber sprach er, im Gegensatz zu den anderen Angeklagten, der Existenz des Gerichtshofs seine Berechtigung nicht ab. Damit sammelte er beim Gericht Pluspunkte und wurde später von den Siegermächten als lebender Beweis dafür herangezogen, in dem Verfahren der Gerechtigkeit und nicht der Rache den Vorzug gegeben zu haben.
Albert Speer war eine schwer einschätzbare Person. Der Schlüssel, um seiner Denkweise näher rücken zu können, ist sein über Jahre hinweg geprägter Verlust an Realitätswahrnehmung. Er lebte in einer eigenen Welt. Die hatte sich um ihn herum aufgetan, als er so unvermittelt und schnell in den Sog des „Führers“ geriet. Der hatte den frisch gebackenen Architekten schnell ins Herz geschlossen, schwelgte mit ihm in Gigantomanie. Aus Berlin sollte Germania werden, mit Schwindel machenden Rekordbauten. Höher, breiter, größer. Das von Speer geschaffene Reichsparteitagsgelände am Dutzendteich wirkte dagegen nur wie ein Appetit-Happen. Wie sollte da der junge Star-Architekt auf dem Boden bleiben?
Speer beeindruckte den „Führer“. Noch mehr, als der ihn in der heißen Kriegsphase 1943 zum Rüstungsminister erhob. Speer steigerte trotz des Bombenhagels der Alliierten die Rüstungsproduktion um ein Mehrfaches. Dafür setzte er Millionen von Zwangsarbeitern ein, von denen viele verhungerten, erfroren, vor Erschöpfung starben. Davon, sagte Speer im Prozess, habe er nichts gewusst. Robert Jackson, der amerikanische Chefankläger brachte das Dilemma mit einer sarkastischen Bemerkung auf den Punkt: „Wir haben hier einen Bevollmächtigten für die Kriegswirtschaft, der geheim die ganze Kriegswirtschaft leitete, jedoch keine Ahnung hatte, dass dies irgendetwas mit dem Krieg zu tun hätte.“
Speer war an der Planung des KZ Auschwitz beteiligt
Erst 60 Jahre nach dem Krieg, erst 25 Jahre nach seinem Tod 1981, wurde der vermeintlich „Gute“ unter den Bösen entlarvt. Dokumente belegen, dass Speer viel stärker in die Todesmaschinerie der Nazis eingebunden war, als es den Anschein hatte. Er war auch an der Planung und dem Ausbau von Auschwitz beteiligt. Diese Beweisstücke lagen auch dem Gerichtshof in Nürnberg vor. Doch sie gingen in der Flut von Papieren einfach unter. Für Speer ein glücklicher Umstand. Er entging so einem sicheren Todesurteil.
Als Speer im September 1966 aus der Haft in Spandau entlassen wurde, war das ein riesiges Medienereignis. Der ehemalige Rüstungsminister blieb bis zu seinem Tod seiner Linie treu: Von den Verbrechen der Nazis hatte er nichts gehört, gesehen, mitbekommen.Helmut Reister
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