Abbruch von Jamaika-Sondierung: "Seehofers Befreiung"
Der 50-jährige Historiker Karsten Fischer hat einen Lehrstuhl für Politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München. Im AZ-Interview spricht er über die gescheiterten Jamaika-Verhandlungen und die Zukunft von Horst Seehofer.
AZ: Herr Professor Fischer, Glauben Sie, dass es zu Neuwahlen kommen wird? Wenn nein, würde eine Minderheitsregierung in Deutschland vier Jahre lang funktionieren?
KARSTEN FISCHER: Eine Minderheitsregierung wäre zwar theoretisch möglich und verfassungsrechtlich zulässig; sie wäre aber keine realistische politische Position. Deswegen hat Bundeskanzlerin Angela Merkel eindeutig erklärt, eine Minderheitsregierung sei für sie kein gangbarer Weg. Erstens bietet sie keine Regierungsstabilität. Und zweitens haben wir es mit einem zunehmend fragmentierten Parteiensystem zu tun, in dem das Organisieren wechselnder Mehrheiten noch schwieriger wäre als ohnehin.
Zumal es zwei Parteien gibt, die SPD und jetzt auch FDP, die sich aus der Verantwortung stehlen.
Ja, diese Parteien stellen ihr Parteiwohl über das Allgemeinwohl. Anders kann man es nicht interpretieren, dass sich die SPD sogar in der jetzigen Situation und damit um den Preis einer Staatskrise noch weigert, für Gespräche über eine Große Koalition zur Verfügung zu stehen, und dass die FDP sich nun ebenso aus ihrer Verantwortung gestohlen hat.
Würden, wie alle Experten prophezeien, vor allem die radikalen Parteien auf der rechten und linken Seite des Spektrums profitieren?
Sicherlich gehört es zu den Problemen der jetzigen Situation, dass sie zur Stärkung radikaler Kräfte führen könnte. Andererseits halte ich es für unwahrscheinlich, dass die AfD ein noch stärkeres Wählerpotential hat als die bei der Bundestagswahl erreichten 12,6 Prozent, und es ist auch nicht plausibel, weshalb ausgerechnet die Linkspartei von Neuwahlen profitieren sollte. Vielmehr könnte es auch sein, dass die Bürgerinnen und Bürger ihre staatsbürgerliche Verantwortung stärker spüren als einige Parteipolitiker und bei ihrer Wahlentscheidung das Interesse an einer stabilen Regierung zur Geltung bringen.
Sehen Sie die CSU und ihren Vorsitzenden Horst Seehofer als die Verlierer der geplatzten Sondierungsgespräche?
Ich wüsste keinen Grund für diese Sichtweise. Schließlich hat die FDP mit ihrer Entscheidung sowohl die CSU als auch die Grünen zu den Gewinnern der Situation gemacht, weil beide die härtesten Konkurrenten in den Sondierungsgesprächen waren, aber konstruktiv und erfolgsorientiert geblieben sind. Viel gefährlicher wäre es für Seehofer gewesen, mit einem schlechten Verhandlungsergebnis dazustehen. Davor hat ihn die FDP bewahrt und ihm damit möglicherweise sogar sein Amt als Ministerpräsident gerettet. Berlin war womöglich Seehofers Befreiung. Denn in der jetzigen Situation, also vor Neuwahlen, den Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten auszuwechseln, wäre ein politischer Selbstmordversuch, und für solche Neigungen ist die CSU bislang ja nicht bekannt.
Was halten Sie von dem Vorschlag Ilse Aigners, den Nachfolger Seehofers durch eine Urwahl bestimmen zu lassen?
Die Urwahl von Kandidat(inn)en ist in den vergangenen Jahren durch die SPD in Mode gekommen, und da die CSU es für richtig hält, mehr direkter Demokratie das Wort zu reden, läge es nahe, wenn auch sie diesen Weg ginge. Aigners Vorschlag ist also plausibel und angesichts der Zerstrittenheit der CSU in der Führungsfrage wohl sogar alternativlos.
Glauben Sie, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrem opportunistischen Politikstil ein Auslaufmodell ist?
Ich finde nicht, dass sie einen solchen Politikstil verfolgt. Ihre Entscheidungen und Äußerungen in der so genannten Flüchtlingskrise belegen auch das Gegenteil. Sicher dürfte aber sein, dass ihre erfolgreiche Kanzlerschaft mit einer Neuwahl ihr Ende fände, weil die Union kaum nochmals mit ihr anträte, sondern einen Neuanfang demonstrieren müsste. Dass damit eine erfolgreiche Kanzlerschaft auf neuartige Weise zu Ende ginge, ist eine Ironie, wie es ja auch eine Seltsamkeit ist, dass die Jamaika-Parteien in einer für die Bundesrepublik so überaus erfolgreichen Phase nicht zu einer Regierungsbildung gefunden haben.