75 Jahre CSU: Die christlich-soziale Kinderstube der Union
Das genaue Datum steht in keinen Annalen. Vielleicht kann ein Rundschreiben des Münchner Oberbürgermeisters Karl Scharnagl als Geburtsurkunde herhalten.
Damit hatte der gelernte Bäcker 60 "verehrte Herren", die er noch von der katholischen Bayerischen Volkspartei (BVP) her kannte, zu einem Gespräch in seinem Amtssitz eingeladen.
Es waren dann "zwölf Apostel", die sich am 14. August 1945 um 17 Uhr trafen und auf die Gründung einer Partei mit "positiv christlicher Weltanschauung" verständigten.
Frühe Geburtswehen setzten zeitgleich in Würzburg ein, wo die US-Militärregierung übrigens Franz Stadelmayer als ersten Verwaltungschef für München angeheuert hatte. Am 25. August trafen sich mehrere Vertraute in der Wohnung des zum Regierungspräsidenten ernannten Alt-Politikers Adam Stegerwald, um die Gründung einer Partei zu beraten, die Christlich-Soziale Union heißen sollte - die erste Namensnennung .
Wie der Name CSU entstand
Bei einem zweiten Treffen im Münchner Rathaus am 12. September beschlossen auch die bereits eingeweihten Männer - Frauen waren offenbar nicht erwünscht - die Namensgebung: Christlich-Soziale Union.
Dies geschah in der Wohnung des Rechtsanwalts Josef Müller in der Gedonstraße. Bis in den Oktober hinein bildeten sich landesweit erste regionale CSU-Verbände, aber noch ohne zentrale Geschäftsführung.
Diese Münchner Absichtserklärung gilt heute in der offiziellen Parteigeschichte als "Gründungssitzung". Aufrufe und Grundsatzerklärungen folgten, manches klang utopisch. Ein eindeutiges Gründungsprotokoll existiert nicht. Auch der verstorbene SZ-Kollege Herbert Riehl-Heyse konnte 1979 in seinem aufschlussreichen Buch über "Die Partei, die das schöne Bayern erfunden hat" nicht recht eindringen in die christlich-soziale Kinderstube mit ihrer ungeordneten Hinterlassenschaft.
Immerhin entdeckte er ein "vorläufiges Grundsatzprogramm", das kurz vor Weihnachten 1945 im Umfang einer Schreibmaschinenseite veröffentlicht wurde.
Am 5. Dezember 1945 wurde sie von der Militärregierung per Lizenz zugelassen. Andere Parteien waren bei den Besatzern deutlich früher zum Zug gekommen: erst die KPD (die bereits eine Großkundgebung im Prinzregententheater organisierte), dann die SPD (die eine "sozialistische Erziehungskonferenz" für die US-Zone einberief), die Liberal-Demokratische Partei (die zur FDP wurde) sowie die Demokratische Partei (deren Traditionsträger später die CSU bevorzugten).
Danach kamen nur noch die WAV (Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung, die der Hasardeur Alfred Loritz sogar ins Kabinett brachte), die separatistische Bayernpartei (die infolge eines Spielbankskandals als Konkurrenz der CSU zum Opfer fiel) und der BHE (Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten, der Ex-Nazis aus dem Sudetenland sogar als Minister aufbot).
Zwei Flügel in der CSU
Eine komplizierte Geschichte also. Dass die CSU, selbst auf Parteitagen, ihre Anfänge und Gründungsjubiläen immer nur klein gespielt hat (wie auch jetzt wieder), könnte freilich noch andere Gründe haben. Von Anfang an war diese Christenunion in zwei Lager gespalten, die sich oft spinnefeindlich befehdeten. Zwar gelang der Ausgleich zwischen dem katholischen und dem evangelischem Flügel.
Doch von Anfang an und Jahrzehnte lang waren Richtung, Führung und vor allem Image der Partei beherrscht, verwirrt, gespalten durch einen grundsätzlichen Zwist zwischen Traditionalisten, Konservativen, Föderalisten, Kirchentreuen ("Ultramontane") auf der rechten Seite und Reformern, gemäßigt national, liberal bis sozialstaatlich denkenden Politikern auf der linken Seite. Letztere repräsentierte der gewerkschaftsnahe Sozialpolitiker Stegerwald.
Schon bei der ersten Großkundgebung am Dreikönigstag 1946 im intakt gebliebenen Nazianbau des Deutschen Museums wurde für jede Richtung ein Redner aufgeboten. Münchens OB Scharnagl bekannte sich klar zur Zusammenarbeit mit Sozialdemokraten und Kommunisten, wie sie sich im Stadtrat bewährt hatte. Der Kommunalpolitiker wünschte "eine neue Partei ohne belastende Tradition, ohne alte Bindung". Das geht hervor aus einer unveröffentlichten Lebensgeschichte, die mir Scharnagls Enkeltochter, die frühere Faschingsprinzessin Monika Böhm, freundlicherweise zur Kenntnis gab.
Doch der 64-jährige Stadtvater sollte bald keine Rolle mehr in der von ihm mitgegründeten Partei spielen. Eine lächerliche Nacktaffäre entkleideten ihn von Amt und Würden. Nachdem im Februar 1946 der Zusammenschluss der CSU-Verbände auf Landesebene erfolgt und Josef Müller zum CSU-Vorsitzenden gewählt war, drängten andere Leute "mit alter Bindung" an die Spitze - und begannen einen permanenten Streit über den richtigen Kurs. Das Schiff schlingerte.
Schlitzohr "Ochsensepp"
Steuermann Müller, der als Vertrauter des antinazistischen Abwehrchefs Admiral Wilhelm Canaris im KZ war, befürwortete die bundesdeutsche Einheit, Trennung von Kirche und Staat, Sozialbindung der Wirtschaftspolitik und dergleichen Modernismen. Freund und Feind kannten ihn nur als "Ochsensepp". Eine gewisse Schlitzohrigkeit war ihm eigen; sie brachte den Justizminister in allerlei Affären und schließlich zu Fall.
Danach führte der Aschaffenburger Rechtsanwalt Hanns Seidel in fünfjähriger, tadelloser Amtszeit als Partei- und Regierungschef die verunsicherte Partei auf fränkisch-freiheitlichen Kurs. Was sie keineswegs von garstigen Gegenströmungen verschonte.
Jünger, weiblicher und fränkischer - altbacken war gestern
Auf der anderen Seite strebte nämlich der überwiegend ländlich geprägte Flügel um den - von den Amerikanern ein- und wieder abgesetzten - Finanzzauberer Fritz Schäffer ein Wiederaufleben der altbayerisch-konservativen BVP an, wobei der flammende Erzkatholik Alois Hundhammer eine Schlüsselrolle spielte. Der Konflikt wurde zum opferreichen Machtkampf und zum Dauerthema der bayerischen Landespolitik, von dem wir Journalisten zehrten.
Erst das vierte Grundsatzprogramm von 1976 konnte alle Flügel, mindestens dem Anschein nach, verbinden. Das Kunststück gelang dem Parteiführer Franz Josef mit dialektischen Kraftakten wie: "Die CSU ist auch eine konservative Partei. Konservativ heißt, an der Spitze des Fortschritts marschieren."

Das Fazit, das ich 1995 als Korrespondent auswärtiger Zeitungen zum 50. Geburtstag der CSU formulierte, könnte auch jetzt noch zum klein gefeierten 75-jährigen Jubiläum gelten: In den vier Jahrzehnten der westlichen Bundesrepublik ist die CSU nie eine Partei im klassischen Sinn gewesen.
Strauß, Herr über allen Flügeln, träumte von einer "Volksbewegung", die Deutschland in der Not retten würde. Immer mehr wuchsen Staat und Partei zusammen, was die Gründer nicht wollten. Eine neue Einschätzung zeichnete sich ab nach dem Tod des Tribunen, der die innerparteiliche Demokratie belebte. Noch viel tiefer wurden Strukturen und Möglichkeiten verändert durch die deutsche Wiedervereinigung. Seither ist die Christlich-Soziale Union eine Partei wie (fast) jede andere.
Zu wünschen wäre der 75-jährigen, scheinbar permanenten Regierungspartei die Rückbesinnung auf ihre Geburt und Kindheit. Dies meinte wohl auch im Dezember 1993 das Münchner Institut für Zeitgeschichte, das erst damals die frühen stenografischen Protokolle aus Washington hatte sichten können: "Die weitere Analyse wird möglicherweise dazu führen, die Gründungs- und Frühgeschichte der CSU neu zu bewerten und die innovativen Potenziale dieser Partei in ihrer Frühphase stärker zu gewichten als die restaurativen Tendenzen."
Eine solche Wende weg von "traditionellen Bindungen" ist nicht zuletzt deshalb wahrscheinlicher geworden, weil die Führungsgremien der Christlich-Sozialen Union - im Vergleich zur Frühzeit - offensichtlich jünger, weiblicher und fränkischer geworden sind. Altbacken war gestern.