40 Krankenhäuser in Bayern müssen geschlossen werden – Arzt: Folgen könnten gravierend sein

In Deutschland gibt es immer weniger Krankenhäuser. Auch die Krankenhausreform von Gesundheitsminister Karl Lauterbach dürfte daran nichts ändern. Bürger fürchten um ihre Versorgung und fragen sich: Wieso muss sich Gesundheit eigentlich finanziell lohnen?
von  Bernhard Hiergeist
Bald zwei Stunden in die nächste Klinik? Menschen im oberpfälzischen Tirschenreuth demonstrieren gegen die geplante Schließung von Krankenhausstationen.
Bald zwei Stunden in die nächste Klinik? Menschen im oberpfälzischen Tirschenreuth demonstrieren gegen die geplante Schließung von Krankenhausstationen. © Initiative Klinik retten

Es ist ja nur ein kleines Landkrankenhaus, das nicht mal verschwindet, sondern ein bisschen kleiner wird. Aber die Folgen könnten gravierend sein, wenn man dem Allgemeinarzt Achim Nemsow zuhört, der in der Region auch als Notarzt im Einsatz ist. Ein medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) soll in Tirschenreuth entstehen, einer kleinen Stadt in der Oberpfalz nahe der bayerisch-tschechischen Grenze. 

"Dann kann ich keinen einzigen Patienten mehr mit dem Rettungswagen in dieses Haus bringen", sagt Nemsow im Gespräch mit der AZ. Weder mit Blutdruck- noch mit Herzrhythmusstörungen, nicht mit entzündetem Blinddarm. Im Grunde nicht mal mehr einen akuten Wespenstich, da der bei Allergikern auch einen Notfall auslösen könne. Es wird keine erweiterte Diagnostik mehr geben, keine stationären Strukturen. Was geht dann überhaupt noch? "Pflaster kleben", sagt Nemsow.

Die Pläne für Tirschenreuth: Umwandlung in ein medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) mit nur mehr ambulanter Behandlung, Notaufnahme nur noch werktags von 8 bis 20 Uhr. Gynäkologie, Chirurgie und Intensivstation sollen schließen. Für alles Weitere müssen Patienten in die Kliniken nach Weiden oder Marktredwitz, jeweils um die 50 Kilometer entfernt. Im April soll es so weit sein.  

Wird ein Fünftel aller Krankenhäuser in Bayern schließen?

Tirschenreuth in der Oberpfalz ist nur einer der vielen Fälle, die in den vergangenen Monaten und Jahren durch die Presse gingen. Mal schließt nur eine Abteilung, bevorzugt Geburtshilfe oder Chirurgie, wie zum Beispiel in Rothenburg ob der Tauber, mal schließt eine kleine Klinik komplett wie in Roding. Mal wird aus einem Krankenhaus ein Versorgungszentrum, passiert in Selb und Neuendettelsau. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft geht davon aus, dass im kommenden Jahrzehnt ein Fünftel aller deutschen Kliniken schließen muss. Etwas mehr als 400 Krankenhäuser gibt es laut Gesundheitsministerium in Bayern, 40 würden demnach schließen. Es ist auch klar, dass dies hauptsächlich die in der Provinz treffen würde.

"Es geht eigentlich seit 1991 bergab", sagt etwa Klaus Emmerich, früher Leiter zweier kommunaler Krankenhäuser in der Oberpfalz, heute in Rente und Mitgründer der Initiative "Gegen das Kliniksterben in Bayern". Von damals etwa 2.500 Krankenhäusern in Deutschland seien in den vergangenen drei Jahrzehnten gut 600 verschwunden, erklärt er in einem Telefonat mit der AZ. Natürlich, gesteht Emmerich zu, seien darunter auch welche gewesen, deren Schließung sinnvoll war. "Aber im Grundsatz ist das ein von Bund und Ländern gewolltes Kliniksterben, das Krankenhauskosten und damit Beitragszahlungen in Grenzen hält."

Gewolltes Kliniksterben – anderswo würde man vielleicht von finanzieller Konsolidierung oder Gesundschrumpfung sprechen. Schließlich befand sich im Jahr 2021 ein Fünftel aller bayerischen Kliniken in "erhöhter Insolvenzgefahr", wie es im Krankenhaus-Rating-Report des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung heißt. Also alles nicht so schlimm, finden manche, etwa der Gesundheitsökonom Reinhard Busse, der etwa Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) berät. "Wir haben einfach zu viele Krankenhäuser, und viele Menschen kommen unnötig ins Krankenhaus, die ambulant behandelt werden könnten", sagte er in einem Interview. Die Versorgung ist zu teuer.

5000 demonstrieren Klinikschließung in Tirschenreuth

Sehr schlimm, findet man nicht nur in Tirschenreuth, wo die Initiative "Klinik retten", bei der auch Notarzt Nemsow mitarbeitet, Protestmärsche und Petitionen organisiert und sich dafür einsetzt, dass die bisherige Versorgung bestehen bleibt. Mitte Januar demonstrierten 5000 Menschen für den Erhalt des Standorts. Denn je weiter der Weg in die nächste Klinik ist, umso länger sind die Rettungswagen unterwegs. Nach Weiden kann es von der Grenze aus schon mal gut zwei Stunden dauern. Im Notfall? 

5000 Teilnehmer zählte die Polizei bei der Demonstration der Initiative "Klinik retten" Mitte Januar in Tirschenreuth.
5000 Teilnehmer zählte die Polizei bei der Demonstration der Initiative "Klinik retten" Mitte Januar in Tirschenreuth. © Initiative Klinik retten

Und dann seien Weiden und Marktredwitz ja ebenso am Anschlag, sagt Nemsow. "Landauf, landab ist es ja das Gleiche: Überall schließen die Kliniken." Im oberfränkischen Selb zum Beispiel die Notaufnahme, was wiederum auch von Marktredwitz aufgefangen werden soll. "Die wären ja gewillt, aber sie schaffen es halt nicht." Darunter leide die Versorgungsqualität im Landkreis, das System wird weiter überlasten, glaubt man bei der Initiative. Und wie geht es erst weiter? In den vergangenen Jahren wurden von den Klinikbetreibern (Landkreis und Stadt Weiden) schon vier Einrichtungen geschlossen. Die Initiative zeigt sich skeptisch, ob Tirschenreuth der Endpunkt dieser Entwicklung bleibt.

Haus- und Notarzt Achim Nemsow bei der Demonstration Mitte Januar in Tirschenreuth
Haus- und Notarzt Achim Nemsow bei der Demonstration Mitte Januar in Tirschenreuth © Initiative Klinik retten

Das Grundproblem laut Nemsow: ein System, in dem nicht einmal die Grundlagen kalkuliert werden können, mit aller Gewalt gewinnorientiert betreiben zu wollen. Denn bei der Grundlage handelt es sich um die menschliche Gesundheit. "Man kann Gesundheit aber nicht kalkulierbar machen."

Genau das versucht aber das aktuelle System. Seit einem Gesetz von 1972 gilt für Krankenhäuser in Deutschland die sogenannte duale Finanzierung: Investitionskosten wie Bau oder Geräte zahlen die Bundesländer. Den laufenden Betrieb finanzieren die Krankenkassen. 2003 wiederum wurde das System der Fallpauschalen eingeführt. Es vergütet Behandlungen etwa nach Krankheiten, Risikofaktoren des Patienten und Bundesland.

System der Fallpauschalen setzt falsche Anreize in der Behandlung

Die Kosten des Pflegepersonals wurden zwar vor ein paar Jahren aus dem System ausgenommen. Doch unter dem Strich werden die Erlöse einer Klinik nur generiert durch die Fälle, die sie behandelt. "Es ist nicht auszuschließen, dass es damit auch Eingriffe gibt, die medizinisch gar nicht nötig oder möglicherweise auch ambulant erbringbar sind", schreibt das Bundesgesundheitsministerium auf seiner Webseite.

Oder dass eben Abteilungen oder ganze Standorte geschlossen werden. "Es dürfte nicht sein, dass Strukturen der Basisversorgung diesem kranken System unterliegen", sagt Notarzt Nemsow. Und dieses System gerät in der aktuellen Situation noch weiter unter Druck. Die pauschalen Preise waren nach Meinung vieler Personen im Gesundheitswesen seit jeher knapp kalkuliert, und halten nun auch nicht mit der Inflation Schritt. Folglich laufen nun in den allermeisten Kliniken immense Defizite auf. 

Was tun? Seit über einem Jahr debattieren die Bundesländer mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) über eine Reform des Krankenhauswesens, es geht hin und her, mal blockieren die Länder, mal brüskiert der Minister. "Auch im Landtag diskutieren wir bestimmt schon fast ein Jahr darüber", sagt Andreas Krahl, der gesundheitspolitische Sprecher der bayerischen Grünen, im Gespräch mit der AZ. "Auf Basis eines Entwurfes, der schon zweimal wieder geändert wurde." Der Bund könnte schneller sein, findet Krahl, und es müsste nicht jede Sau zweimal durchs Dorf getrieben werden.

Seit Monaten debattiert Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) mit den Bundesländern über die Krankenhausreform.
Seit Monaten debattiert Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) mit den Bundesländern über die Krankenhausreform. © Kay Nietfeld/dpa

Lässt man alles politische Geplänkel beiseite, geht es im Kern um zwei Gesetze, die kommen sollen. Und eigentlich klingt Lauterbachs Hauptvorhaben, als würde es genau das Problem der Gewinnorientierung adressieren. Anstatt einer Vergütung nach Fallzahlen soll eine Vorhaltevergütung eingeführt werden. 

Aber der Teufel steckt im Detail, Experten gehen nicht davon aus, dass die Vorhaltepauschalen viel ändern werden. Das Unternehmen Vebeto, das Datenanalysen für Krankenhäuser durchführt, hat die Umstellung der Pauschalen modelliert und kommt in einer Untersuchung zum Schluss: Im Mittel und auf lange Sicht ändert sich nichts an den Erlösen. "In den Simulationen haben wir keinen Anhaltspunkt dafür gefunden, dass die neue Art der Finanzierung kleinen Krankenhäusern hinsichtlich des wirtschaftlichen Überlebens hilft."

Wie funktioniert Notfallversorgung ohne Krankenhäuser?

Also wird das Kliniksterben auch trotz der Reform weitergehen? Beziehungsweise, wie Grünenpolitiker Krahl etwas vorsichtiger sagt, der "unkontrollierte Strukturwandel"? Wie man es auch nennt: "Es darf auf keinen Fall dazu kommen, dass irgendwo Kliniken ersatzlos gestrichen werden", sagt Krahl. Eine Schließung müsse immer bedeuten, dass dementsprechend die präklinische Versorgung durch Notärzte, Hubschrauber, Kassenärztliche Vereinigung aufgebaut wird, dass die Erstbehandlung gesichert ist. "Das vermisse ich gerade bei den Vorschlägen von Lauterbach." 

Ein gebrochener Finger oder eine Kopfplatzwunde könne durchaus auch in einem MVZ behandelt werden. Krahl verweist auf das gelungene Beispiel Waldkirchen in seinem Wahlkreis im Bayerischen Wald. Das dortige Klinikum wurde vor einigen Jahren zum Gesundheitszentrum umgewandelt. Gebrochene Finger, Kopfplatzwunden, Stabilisierung von Patienten; alles, was die klassische Erstversorgung betrifft, könne dort geleistet werden. Für alles, was darüber hinaus geht, müsse man dann in das Klinikum im etwas weiter entfernten Freyung fahren. 

Wie könnte eine Lösung aussehen? Es müsse das Finanzierungsmodell geändert werden, findet der ehemalige Klinikleiter Emmerich. Er hält ein Modell der Selbstkostendeckung für sinnvoll. Krankenhäuser sollten nicht mehr selektiv Behandlungen anbieten, die sich rechnen, sondern einfach die Leistungen, die sie erbringen, komplett bezahlt bekommen. "Dann behandeln sie auch nach dem Bedarf der Patienten und sind nicht mehr gezwungen, alles Mögliche an sich zu reißen", sagt er.

Wenn aber alles bezahlt würde, könnten Ärztinnen und Ärzte dann nicht dazu neigen, viel zu viel Leistungen zu erbringen? Im Sinne von: Machen wir halt noch den Ultraschall, kann ja nicht schaden? Das glaubt Emmerich nicht. "Man wird ja auch in Zukunft nicht ganz ohne Bürokratie auskommen", sagt er. Auch im kostendeckenden Modell müssten Krankenhäuser Rechenschaft ablegen über ihr Ergebnis. "Und es kann geprüft werden, ob die Leistungen einigermaßen deckungsgleich sind mit dem, was andere Häuser machen."

Bayern stärkt die Regionen, aber schaut bei den Krankenhäusern zu

Es ist ein gigantisches Brett, das da politisch zu bohren wäre. Und selbst dann wäre nicht ausgemacht, dass wirklich alle Kliniken bestehen bleiben. Was verliert also Bayern, wenn Kliniken zu Versorgungszentren werden? Wenn Nachts kein Notarzt mehr anwesend ist? Wenn Geburtskliniken und Operationssäle auf dem Land geschlossen werden? "Die Staatsregierung hat in den letzten Jahren sehr viel aufs Land verlagert", sagt der Notarzt Achim Nemsow. Die Regionen zu stärken, ist eines der Hauptanliegen von Ministerpräsident Markus Söder

So bekam Tirschenreuth einen Standort des Amts für ländliche Entwicklung. In Marktredwitz wird eine neue Justizvollzugsanstalt gebaut, mit Arbeitsplätzen für 200 Menschen. "Das ist vom Ansatz her richtig gut", sagt Nemsow. Aber denen, die sesshaft werden sollen, die Grundversorgung der Gesundheit wieder wegzunehmen? "Das widerspricht sich doch total", sagt der Notarzt.

Und es widerspricht möglicherweise auch einem starken Grundsatz: dem nämlich, dass der Freistaat Bayern gleichwertige Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen im ganzen Land fördert und sichert, in Stadt und Land. Nachzulesen ist das in Artikel 3, Absatz 2 der Bayerischen Verfassung.

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