27 Jahre Schlussfahrer der BR-Radltour: Er ist immer der Allerletzte

Karl Zwerger hat kein Problem damit, hinten dran zu sein. Seit 27 Jahren gibt er den Schlussfahrer bei der BR-Radltour. Ohne ihn kämen viele keinen Berg hoch oder würden unterwegs einfach verloren gehen.
von  Lutz Bäucker
Seit vielen Jahren immer der BR-Radltour hinterher geradelt: Karl Zwerger und Heidrun Schöneberg. Heuer muss die Frau aus der Rhön alleine fahren.
Seit vielen Jahren immer der BR-Radltour hinterher geradelt: Karl Zwerger und Heidrun Schöneberg. Heuer muss die Frau aus der Rhön alleine fahren. © Lutz Bäucker

Was andere Radfahrer nervt oder ärgert, macht ihm Spaß: das Hinterherfahren. "Ja", sagt Karl Zwerger und lächelt dabei, "ich zuckle gern hinterher." Schon 27 Jahre lang gibt der gebürtige Münchner den Schlussfahrer der BR-Radltour, bei der seit 1990 immer zu Beginn der Sommerferien Tausende von begeisterten Hobbyradlern quer durch Bayern strampeln. "Ich bin immer der Letzte!"

Eine Position, die ihm mehr Verantwortung und mehr Ehre eingebracht hat, als er sich wohl jemals gedacht hat. Die ihn in Radfahrerkreisen bekannt wie einen bunten Hund gemacht hat und dank der er auf dem Radl ferne Länder, wunderschöne Landschaften und fremde Kulturen erfahren konnte: "Das Radeln," sagt der bekennende Nichtautofahrer, "hat mein Leben geprägt."

Ohne sein "Mir kenntat jetzt fahr'n!" geht nix bei der Tour

Schlussfahrer zu sein, heißt Mitverantwortung zu tragen für das Funktionieren einer riesigen, im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit stehenden Veranstaltung. Ohne sein ins Funkgerät geknurrtes "Mir kenntat fahrn!" setzt sich das 1000-Mann-Peloton der Radltour niemals in Bewegung.

Der scharfe Pfiff seiner Pfeife ist das Zeichen für BR-Spitzenfahrer und Cheforganisator Wolfgang Slama, dass "hinten beim Karl" alles passt und er ganz vorne in die Pedale treten kann. Slama, der Franke, war es auch, der Zwerger, den Oberbayern, als letzten Mann für den manchmal bis zu zehn Kilometer langen, dahinrollenden Radlwurm "entdeckte".

Zwerger gehört eher zu den Gemütlichen

Zwerger war 1993 als passionierter Radfahrer Teil einer ADFC-Truppe, die seit nunmehr 30 Jahren die "Tour de Bavaria" begleitet, mit Mechanikern, Streckenmarkierern oder Entourage für prominente Teilnehmer.

Geschafft! Radler bei der Zieleinfahrt in Cham. Dass alle sicher ans Ziel kommen, dafür sorgt der Schlussfahrer.
Geschafft! Radler bei der Zieleinfahrt in Cham. Dass alle sicher ans Ziel kommen, dafür sorgt der Schlussfahrer. © Lutz Bäucker

"Die sind mir immer zu schnell g'fahrn," blickt der heute 67-jährige zurück, "mir hat das Gemütliche am Schluss viel besser g'falln." Am allerletzten Ende des Radlzuges durch Bayern, dort fühlte er sich rasch heimisch.

Wer Schlangenlinien fährt, kommt in den Besenwagen

Vor sich die Ausgepowerten und Fußlahmen, aber auch die, die sich selbst überschätzen und die, die sich verzweifelt gegen die Einsicht wehren: "Dieser Berg ist für mich einfach zu steil, diese Etappe schaff ich nicht."

Zwerger kennt sie alle, erkennt sofort, wenn ihre Zeit gekommen ist, um vom Rad ab- und in den Besenwagen des THW einzusteigen: "Wenn's Schlangenlinien fahrn, wenn's die Pedale nimmer rumkriagn, dann is' soweit."

Bis zum finalen: "Franz, i hob Kundschaft für di!" an den Fahrer des dunkelblauen Besenwagens versucht der früher am Klinikum Neuperlach tätige Zwerger noch alles in seiner Macht stehende, die schwächelnden Radfahrer durch gutes Zureden, bodenständige Sprüche und Ablenkungsmanöver jeglicher Art doch noch über den beziehungsweise die Berge zu bringen.

Hinter ihm fahren nur noch Polizei und THW

Ein harter Job, bemerkt man, wenn man ein paar Kilometer mit dem Schlussfahrer aus München hinter dem Feld her schleicht. "Hinter mir fährt keiner!"

Schon beim Start muss er die Säumigen einsammeln, die Vergesslichen, die Plauderer und Träumer. "Auf geht's , pack mer's!" Irgendeiner kommt immer zu spät, der Zwerger muss dafür sorgen, dass hinter ihm niemand mehr mit dem Fahrrad fährt.

Auch Promis lassen sich gern mit dem Letzten der Radltour fotografieren - hier "Bayern"-Star Franz "Bulle" Roth in Bad Wörishofen.
Auch Promis lassen sich gern mit dem Letzten der Radltour fotografieren - hier "Bayern"-Star Franz "Bulle" Roth in Bad Wörishofen. © Lutz Bäucker

Hinter dem Allerletzten der BR-Radltour kommt nur noch das THW und die Polizei. Sonst keiner. Diese Ordnung gilt 80,4 Kilometer lang wie auf der gestrigen Königsetappe übern Bayerischen Wald oder über 133 Kilometer wie beim 20-jährigen Jubiläum der Tour von Nürnberg nach Ingolstadt: "Nach mir kommt nix mehra", sagt der Schlussfahrer kategorisch. Seine beinahe valentineske Gelassenheit ist plötzlich weg, da versteht der Mann keinen Spaß mehr. Er weiß: "Wenn koa Zug drin is, kannst as vergessn."

Wenn es unterm Helm 70 Grad hat, kapitulieren viele

Unterwegs, wenn der Asphalt glüht, die Augusthitze die Fahrer regelrecht anspringt und die Beine schwer werden, wird die Aufgabe noch herausfordernder. Wenn der Schweiß in den Augen brennt, die Temperatur unter den Helmen 60 oder 70 Grad erreicht, reihen sich die Mühseligen und Beladenen der Karawane am rechten Straßenrand auf. Greifen zur Trinkflasche, zum Handtuch, nuscheln ein "Ich muss mal" und wollen sich in die Büsche schlagen.

Der Schlussfahrer sieht das Peloton enteilen, die Hitze flimmern und die Wand vor sich. Er muss handeln. Jetzt, hier, sofort, ohne Verzug. Und seine Schutzbefohlenen hinüber in den Besenwagen lotsen. Manch einer schafft es gerade noch, andere protestieren lahm: " Hey Karl, wos machstn mit mir?! Du, i bin no total fit, woasst scho?!" Zwerger lächelt milde - "Ja, is scho guad." - und pedaliert weiter, immer weiter.

"Karl, du bist echt das Allerletzte", sagen viele zu ihm

Die meisten lassen sich von ihm sanft überzeugen, den einen oder die andere hat er durch bloßes Zureden die steilsten Anstiege hoch gebracht. Dann redet er über Fußball oder, ja!, Radfahren, hört den Leuten zu, wenn sie ihre Sorgen und Nöte bei ihm abladen und gibt den Motivator in Dauerschleife: "Kimm, auf geht's, siahgst du an Berg? - I ned!"

Hunderte von radelnden Menschen haben ihn so kennen- und schätzengelernt. Überall, wo er auftaucht, gibt's sofort ein großes Hallo: "Karl, du bist echt das Allerletzte!" Das freut den Mann mit dem markanten Fünftagebart.

"Durch das Radfahren hab ich viele wunderbare Menschen getroffen, einige sind sogar Freunde fürs Leben geworden", sinniert er, "ich mach nur noch Urlaub auf dem Fahrrad, mein Freizeitverhalten wird dadurch geprägt. Einfach schee."

Von vielen Seiten erfährt er Wertschätzung

Seine ausgleichenden Eigenschaften in der Position des Schlussfahrers haben ihm auch bei den Verantwortlichen des BR hohe Wertschätzung eingebracht. 27 Jahre lang das Kommando "Mir kenntat jetzt fahrn!" geben zu dürfen, das wird nicht jedem zugestanden. Zweimal hat er mitgeholfen, Hunderte von bayerischen Radlern heil über den Brenner zu bringen ("Der Anstieg von Innsbruck nauf, des is des Härteste," sagt Zwerger und grinst).

Bei unzähligen Hörer-Radreisen der Anstalt im Ausland sorgt er wie ein Hütehund dafür, dass alle Schäfchen heil an ihr Ziel kommen. Im Verkehrschaos von Athen und Catania bleibt er genauso gelassen wie beim Überqueren der Galata-Brücke in Istanbul oder im Gewusel des Souks von Casablanca.

Karl Zwerger ist viel herumgekommen, auf seinen zwei dünnen Reifen. Immer mit einem großen Rucksack auf dem Rücken (was drin ist, verrät er bis heute keinem…), ausgerüstet mit Trillerpfeife, Funkgerät, Warnweste und Helm. Und bis vor Kurzem immer auf einem seiner mit bloßer Muskelkraft vorwärtsgetriebenen Fahrräder.

Nach 27 Jahren hat er sich zum E-Bike durchgerungen

"A E-Bike kommt mir net infrage, auf keinen Fall!" hat der aktive Rentner immer wieder auftauchende Fragen strikt abgewehrt. Doch jetzt bröckelt die Front des Schlussfahrers. Angesichts selektiver Steigungen auf einer Radreise über kroatische Inseln ist Zwerger umgestiegen.

Und auch für die Radltour 2022 hatte er sich bereits eine Maschine mit Motor organisiert, ohne sich dafür irgendwie rechtfertigen zu müssen. Leider konnte er im letzten Moment aus familiären Gründen nicht an den Start gehen: "I mechat aber auf der letzten Etappe am Freitag wieder Letzter sein", hofft Zwerger. Ganz kann er es eben nicht lassen.

Das Hinterzuckeln, das Motivieren, das Bad in der Menge. Bis es soweit ist, übernimmt Heidrun Schöneberg seinen Job am Schluss der Radltour. Eine Frau aus der Rhön, die seit vielen Jahren zusammen mit Zwerger hinterher radelt.

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