25.000 Nürnberger können nicht lesen und schreiben
Durchs Raster gefallen: Menschen wie Anni (46) finden Hilfe im Lernzentrum des Bildungszentrums.
NÜRNBERG Anni hat Muskelkater. Vom Kegeln mit den Freunden am Wochenende. Die 46-Jährige mit dem modischen Haarschnitt und der kecken Farbsträhne lacht und erzählt viel. Auch, dass sie in dieser Woche wenig zum Üben der Buchstaben und Wörter gekommen ist. 1979, vor 29 Jahren, hat sie die Schule verlassen. Lesen und schreiben hat sie nicht gelernt. Das holt sie jetzt nach. Deshalb heißt Anni auch nicht Anni. „Ich schäme mich nicht. Aber es muss ja nicht jeder wissen, dass ich nicht lesen und schreiben kann“, sagt sie.
Sie ist eine von 25000 An-alphabeten in Nürnberg. An einem Abend in der Woche kommt sie regelmäßig ins Lernzentrum des Bildungszentrums. Sieben bis acht Schüler unterrichtet Irene Fock dort durchschnittlich pro Kurs. „Viele müssten häufiger als einmal in der Woche kommen. Aber neben dem Beruf schaffen sie das nicht“, sagt sie. 69 Prozent der Teilnehmer an den Alphabetisierungs-Kursen sind berufstätig. Auch Anni. Sie arbeitet in der Gastronomie.
Ihr Chef weiß, dass sie nicht lesen und schreiben kann. Und einige ihrer Freunde und Kollegen auch. „Meinen fünf Geschwistern habe ich es erst vor zehn Jahren gesagt. Die konnten das gar nicht glauben. Aber ich bin halt immer so mitgelaufen, so dass das keinem aufgefallen ist.“
Ihrem Sohn will Anni ihr Schicksal ersparen
Auch den Lehrern in der Schule nicht. „Da war ich abgestempelt, dass ich das Lesen sowieso nicht lerne. Da bin ich einfach durchs Raster gefallen“, erzählt Anni. Eine spezielle Förderung gab’s nicht.
Auch nicht vom Elternhaus. „Meine Mutter war halt altmodisch. Frauen mussten in ihren Augen nichts lernen. Sie sollten daheim bleiben.“ Dazu kam, dass sie als Jugendliche auch schon mal aufsässig war. „Ich war die jüngste und hätte die dreckigen Fußballschuhe meiner Brüder putzen sollen. Aber ich machte das nicht. Um mich hat sich keiner gekümmert.“ Und dass Anni nicht lesen konnte, war allen egal.
Erst beim Führerschein merkte sie, „dass ich doch nicht so dumm bin“. Sie fand eine Fahrschule, in der sie Theorie-Fragen mündlich beantworten konnte. „Das hat mir Mut gemacht.“ Schwierig wurde es, als ihr Sohn in die Schule kam. „Ich konnte ihm ja nicht helfen.“ Doch Anni wollte ihm ihr Schicksal ersparen. „Wenn er Hilfe brauchte, bezahlte ich Nachhilfe.“ Das war teuer, aber es hat sich gelohnt. „Er hat jetzt Mittlere Reife.“ Die Mutter ist stolz.
Computer-Programme helfen
Vor zwei Jahren fasste Anni den Mut, einen Kurs zu besuchen. „Das Alphabet konnte ich. Aber ich konnte die Buchstaben nicht zu Wörtern zusammensetzen.“ Nach einigen Kursen – zwischen vier und fünf Jahren dauert es im Schnitt, bis Erwachsene Lesen und Schreiben lernen – kann sie nun ein Buch lesen. Viel schwieriger ist es da, Fahrpläne zu verstehen. „Da lauf’ ich lieber. Oder ich frage jemanden.“ Irgendwann werden auch die auf dem Stundenplan stehen. Derzeit ist es das Schreiben. „Das ist schwer. Ich schreibe halt so, wie ich rede“, stöhnt Anni. „Und dann fehlen die richtigen Endungen“, sagt Lehrerin Irene Folk. Für jeden ihrer Schüler überlegt sie sich einen individuellen Lernplan. Sie knetet Buchstaben, stempelt sie und legt Wörter aus Russisch Brot. „Die Schüler müssen ein Gefühl für Buchstaben bekommen, die sie dann zu Silben und Wörtern zusammensetzen.“
Dabei helfen auch Computerprogramme, die auf den Rechnern im Lernzentrum laufen. Da müssen ein Buchstabenhaufen in möglichst kurzer Zeit zu einer korrekten ABC-Reihe geordnet oder Bilder den richtigen Begriffe zugeordnet werden.
Jeder Alpha-Kurs wird von einem Lehrer und von einem Lerncoach betreut. Coach Achim Pöllmann kennt sich zudem mit Computern aus: „Es ist zunehmend wichtig, dass die Menschen diese Informations-Technik anwenden können.“ Doch er ist weit mehr als ein Computer-Experte. Er hilft auch, wenn ein Beschwerde-Brief an den Vermieter zu schreiben ist, weil es dauernd in die Wohnung regnet. Und wenn übers Internet die Kegelbahn fürs nächste Wochenende reserviert werden soll. Michael Reiner
Mehr über die Angebote des Lernzentrums im Nürnberger Bildungszentrum lesen Sie in der Print-Ausgabe Ihrer AZ am Dienstag, 16. Dezember.
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