100000 Tonnen Wasser im Rücken

NÜRNBERG Unter zehn Meter macht’s Sebastian Steudtner erst gar nicht. Der 25-jährige Franke gehört zu der seltenen Gattung der „Big Wave-Surfer”, also der tollkühnen Extremsportler, die sich mit ihrem Brett die turmhohen, bis 80 km/h schnellen Wellen vor Hawaii hinunterstürzen. 2010 bekam er für seinen Ritt auf einem 22 Meter-Brecher den Billabong XXL-Award, den Oscar der Surfbranche, verliehen. Heute stellt er im „Cinecitta” in Nürnberg seinen neusten Film „Play Gravity II” vor. Mit der AZ sprach er vorher über die Gefahren seines Sports, seinen steinigen Weg in den Surf-Olymp und die falschen Klischees in der Szene.
AZ: Herr Steudtner, wann hatten Sie das letzte Mal Angst? Oder können sich Big Wave-Surfer solche Gefühle gar nicht erst erlauben?
SEBASTIAN STEUDTNER: Sicher, wenn irgendeiner sagt, er hätte keine Angst oder Respekt vor so einer Welle, ist er verrückt. Ich kann aber beispielsweise beeinflussen, dass mein Team zu 100 Prozent funktioniert und dass ich selbst perfekt vorbereitet bin. Trotzdem bleibt der Sport lebensgefährlich. Erst 2008 ist einer ihrer Kollegen in einer „Pipe” umgekommen.
Man muss sagen, dass sich jedes Jahr mindestens zwei Surfer schwer verletzen.
Warum setzt man sich solchen Gefahren aus? Was sorgt für den „Kick”?
Was mich am meisten daran fasziniert, ist die unglaubliche Kraft der Welle. 100000 Tonnen Wasser im Rücken zu haben, das ist unbeschreiblich. Nicht mal mit einem Start in einem Düsenjet kann man dieses Gefühl vergleichen.
Wie haben Sie gelernt, solche Kräfte zu beherrschen?
Ich habe mich von Anfang an bei meinem Training an klassischen Leistungssportarten orientiert. Ganz wichtig sind koordinative Fähigkeiten. Aber auch Kraft, Ausdauer und Athletik. Mein Coach Radoslav Djukic, der die russischen Ski-Herren trainiert, und ich haben festgestellt, dass die Belastungen ähnlich wie bei einem Riesenslalom sind. Ich trainiere fast genauso wie die Skifahrer.
Anderes Thema: Kennen Sie den Film „Cool Runnings”?
Wieso?
In der Hollywood-Komödie treten vier Jamaikaner als belächelte Bob-Exoten bei den Olympischen Winterspielen an und lehren die etablierte Konkurrenz das Fürchten. Ihre Rolle als Franke im internationalen Surf-Zirkus ähnelt dieser Geschichte.
Für mich war das einfach der Traum, den ich ausleben wollte. Das Wasser war von Anfang an mein Element. Und ich wollte mich auch nicht davon stören lassen, dass ich aus einem Land komme, wo es keine Wellen gibt. Mit 13 habe ich mich entschlossen, nach Hawaii zu gehen.
Ihre Mutter ist vermutlich übergeschnappt vor Freude.
Nein. Aber ich hatte mir das in den Kopf gesetzt. Nach drei Jahren Überzeugungsarbeit hatte ich sie soweit. Schule hat mich nie interessiert. Ich war nicht schlecht, aber ich wusste, dass ich niemals studieren oder einem geregelten Beruf nachgehen werde.
Der Start mit 16 Jahren, ganz allein im Paradies, war bestimmt nicht einfach. Wie kommen Sie auf Hawaii über die Runden?
Nelson Armitage jr., in dessen Familien-Clan ich aufgenommen wurde und der auch mein Tow-Surf-Partner ist, hat auf Hawaii eine Poolfirma. Die ersten sieben Jahre habe ich mich dann mit dem Bau von Swimmingpools über Wasser gehalten. Das hat mich definitiv das Arbeiten gelehrt. Das war nicht schlecht – auch für meine Disziplin.
Sie sind also keiner dieser surfenden Lebenskünstler, die den ganzen Tag auf die perfekte Welle warten?
Die Jungs aus den Surf-Hochburgen Australien, USA oder Hawaii, wo selbst die Newcomer siebenstellige Beträge verdienen, haben diesen Lifestyle. Die trainieren nicht, sondern schlafen bis zwölf Uhr – die kiffen, die saufen. Und die Surf-Industrie will das auch. Denn dieses Image lässt sich besser verkaufen.
Für Sie wäre das nichts?
Nein, dazu hatte ich auch keine Chance. Ich war auf Hawaii ja zunächst auf mich allein gestellt und musste mich um meinen Lebensunterhalt kümmern. Ich hätte mich sonst wahrscheinlich von Kokosnüssen ernähren und am Strand schlafen müssen.
Wie hat die Szene den Neuling aus Franken aufgenommen?
Am Anfang war es schon extrem. Damals musste ich mich schon öfters mal fetzen, um mich durchzusetzen.
Klingt eher nach Ellenbogen-Gesellschaft, als nach großer, harmonischer Surf-Familie.
Das ist auch ganz verständlich. Solche Wellen hat's nur zweimal im Jahr und 40 Leute wollen eine davon erwischen. 15 gehen leer aus, aber alle versuchen natürlich drauf zu kommen. Da wird sich nichts geschenkt.
Die 15000 Dollar, die Sie für den Billabong XXL-Award bekommen haben, sind dann wohl eher eine Art Schmerzensgeld?
Eigentlich ist das ja eine reine Medienveranstaltung. Mir hat der Preis aber in dem Sinne viel gebracht, weil ich damit als ernstzunehmender Extremsportler anerkannt wurde. Das Surfen an sich hat sehr romantische Momente, aber das ganze Drumherum, vor allem die Kommerzialisierung des Sports, ist eher negativ.
Spätestens nach dem Award sind Sie selbst ein Star der Szene und über ihren Exoten-Status längst hinaus, oder?
Die Hobbysurfer in Amerika oder Australien lieben mich. Die sagen: „Was, du kommst aus Deutschland.” Die eigentliche Szene, also die anderen Profisurfer, hassen mich, weil ich das erreicht habe, was ihrer Ansicht nach keiner jemals erreichen durfte. Denn sie predigen schon seit Jahrzehnten: Nur wir, die mit den Wellen aufgewachsen sind, können surfen. Und genau das habe ich widerlegt.
Interview: K. Kaufmann