10 000 bayerische Jobs – im All verflogen?

Beim europäischen Navigationssystem Galileo sollte die Industrie in Bayern stark profitieren. Doch nach Verzögerungen und Streitigkeiten platzte der EU der Kragent: Die Aufträge werden neu ausgeschrieben und Amerikaner wittern ihre Chance.
Von Thomas Gautier
Die Jobs sollten buchstäblich vom Himmel fallen. Im Jahr 2007 sagte Bayerns damaliger Wirtschaftsminister Erwin Huber (CSU), in Bayern würden mit dem europäischen Satellitennavigationsprojekt „Galileo“ 10000 Arbeitsplätze entstehen – Manager träumten von Aufträgen im Wert von 200 Millionen Euro.
Gerade für München waren das himmlische Aussichten: Mit 15000 Angestellten in 230 Firmen schlägt hier das Herz der bayerischen Raumfahrtindustrie. Hier saßen die Hauptakteure des Mammut-Projekts: Das Betreiberkonsortium „ESN Galileo Industries“ in Ottobrunn leitete den Bau der Infrastruktur und der Testsatelliten. Nebenan schraubten Ingenieure der EADS-Tochter Astrium sie zusammen. Das Kontrollzentrum wurde in Oberpfaffenhofen geplant. Galileos Welt drehte sich um München. Bis jetzt.
Am Dienstag hat die EU-Kommission die Aufträge für die übrigen 26 Satelliten neu ausgeschrieben, weil sie sich mit Galileo Industries zerstritten hat. Bis 2013 stehen Aufträge im Wert von 2,1 Milliarden Euro in Aussicht. Insgesamt gibt die EU 3,4 Milliarden aus. Jetzt wanken die einst ach so sicheren bayerischen Jobs. Der US-Flugzeugbauer Boeing will ein Stück vom Kuchen, auch europäische und deutsche Firmen lauern auf Aufträge.
„Jeder kann gewinnen“, sagt Ulrich Walter, Professor für Raumfahrttechnik an der TU. Ein Konkurrent Astriums sei der französische Rüstungskonzern Thales. „Boeing hat auch eine Chance, wenn sie sich mit einem europäischen Partner zusammentun“, sagt Walter – etwa der Bremer Kleinsatellitenbauer OHB. „Sie suchen einen Partner, weil sie es allein nicht stemmen können. Eine Allianz mit Boeing ist denkbar.“
Amerikaner bei Galileo waren bisher tabu. Europas Satelliten sollten das US-System GPS (Global Positioning System) in allen Bereichen schlagen: GPS wird vom Militär betrieben. Das Pentagon kann es jederzeit abschalten. Beim zivilen Galileo soll das nicht passieren. Seine Satelliten sollen Autos, Flugzeuge oder Schiffe auf den Meter genau leiten.
Bayerische Firmen hatten da bislang einen großen Vorteil: Know-How. EADS Astrium hat vier Testsatelliten gebaut. Zwei von ihnen kreisen schon im All. 2005 startete Giove-A, im April 2008 Giove-B. Die Firma Kayser-Threde aus Obersendling hat Filter für die Zeitmessung der Satelliten entwickelt. „Wer bei der Testphase dabei ist, hat extrem gute Chancen, bei der zweiten Stufe dabei zu sein“, sagte Hubert Reile, Projektkoordinater beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt noch im März 2007 zur AZ. Bayerns Wirtschaftsministerin Emilia Müller ist auch heute noch optimistisch: „Ich bin überzeugt, dass unsere innovativen und leistungsfähigen Unternehmen auch bei der jetzt begonnenen Ausschreibung sehr gute Chancen haben.“
Ulrich Walter sieht das anders: „Boeing hat auch viel Know-How“, warnt der ehemalige Astronaut, „sie haben die GPS-Satelliten gebaut.“ Viel wichtiger sei das Geld. Das Projekt finanzieren jetzt gänzlich die Steuerzahler – Protzen ist da nicht. „Angebot und Preis sind das alles Entscheidende“, sagt Walter.
So weit hätte es gar nicht kommen müssen. Bis 2007 war klar: Galileo Industries baut die Satelliten. Für die zweite Testphase konnten sich die Firmen beim Konsortium bewerben. Dann verzögerte sich der für 2008 geplante Start von Galileo immer wieder – auf 2010, weil die EU keine Betreiberlizenz ausstellte. Auf 2011, weil Spanien ein eigenes Kontrollzentrum wollte. Auf 2012, weil die Finanzierung wankte. Im Mai 2007 reichte es der EU: Sie drohte dem Konsortium, den Auftrag neu zu vergeben.
Da begannen auch die ESN-Manager zu zweifeln: Wer haftet, wenn ein Flugzeug wegen Galileo abstürzt? Was, wenn sich das Projekt nicht rechnet? Russland und China tüfteln an eigenen Systemen – eine gefährliche Konkurrenz. Das Risiko wollten die Bosse nicht eingehen und zogen ihre Finanzierung zurück. Dafür könnten Bayerns Arbeitnehmer bald teuer bezahlen.